24 Apr Gedanken am 24.4.2020 – Alle Menschen im Blick halten
Ich habe gestern den Bericht einer Interview mit dem Innsbrucker Dogmatiker Niewiadomski gelesen, wo er theologische Ansätze und Argumentationen verwendet, um bestimmt politische Ansätze und Entscheidungen zu unterstützen und andere scharf zu kritisieren.
Das finde ich auch als Theologe ein Beispiel dafür, was Theologie und Kirche in dieser Krise nicht anzubieten hat: aus dem Elfenbeinturm mit abstrakten Überlegungen eine mehr oder wenige fertige Antwort auf komplexe Situationen geben, die jeder christlicher (oder gar jeder guter) Mensch treffen müsste.
Ob die beste Antwort auf das Virus im Erreichen von „Herdenimmunität“ oder in (langer, vielleicht dauerhafter) „sozialen Distanz“ ist eine medizinische, soziale und politische Frage. Eine gute Entscheidung kann man nur aufgrund von einer enormen Mengen an Fakten, Vermutungen und Überlegungen treffen. Die Theologie kann und soll nicht versuchen, eine fertige Antwort zu geben.
Um das zu verdeutlichen: Was ist, wenn kein wirksamer Impfstoff je gefunden werden kann? Kein wirklich wirksames Medikament? Aber eine natürlich Immunität ist nach einer Ansteckung und Genesung gegeben? Was sollten wir tun? (1) für die nächsten 10 oder 20 Jahren möglichst nahen Kontakt vermeiden, Masken überall tragen, keine Umarmungen usw. um auf Dauer die Ansteckungen niedrig zu halten? (2) ein wirklich extremes und weltweites Lockdown für vier bis zwölf Wochen machen (kein Lebensmittelhandel oder Lieferungen, man versorgt alle vor dem Lockdown mit Vorräten für diese Wochen, kein Spitalbetrieb, kein Verkehr…)? (3) oder sechs Monate lang ganz konsequent Menschen der Risiko-Gruppen schützen aber kontrolliert zulassen, dass fast alle anderen Menschen, die nicht zu einer Risikogruppe gehören, dem Virus ausgesetzt aber dann immun sind, sodass das Virus sich kaum oder gar nicht mehr ausbreiten wird? (Auch nicht mehr unter den nicht immunen Personen der „Risikogruppe“; das ist die Wirkung dieser „Herdenimmunität“ die von Politikern überlegt wurde und zum Teil noch überlegt wird.)
Was ist, wenn die Maßnahmen, die die Ausbreitung des Virus verhindern sollen, mehr andere Tode verursachen würden als das Coronavirus verursachen würde? Durch Armut und Hunger (siehe Afrika), medizinischer Vernachlässigung (in New York sterben viele Menschen am Coronavirus, es sterben aber täglich auch viel mehr Menschen ohne das Coronavirus als normalerweise täglich sterben, vermutlich weil sie sich für andere medizinische Probleme nicht untersuchen oder behandeln lassen; aus Angst vor einer Ansteckung oder aus dem Glauben, dass sie nicht kommen dürfen), Verzweiflung wegen z.B. Isolation (Suizidfälle)?
Diese Gedankenspiele sollen zeigen, dass politische Handlungen und Entscheidungen nicht aufgrund von abstrakten Überlegungen („soviel Leben wie möglich retten, koste was es wolle.“) getroffen werden können. Politiker müssen genau anschauen, wie es auf dem Boden ausschaut; wie das Leben der Menschen (soweit man es prognostizieren kann) ohne Maßnahmen, mit diesen Maßnahmen, oder mit jenen Maßnahmen in den nächsten Monaten und Jahren ausschauen wird. Und sie müssen dann versuchen, dabei den besten Weg und die beste Mittel zu finden.
Es wäre auch etwas kurz gedacht bzw. unfair, immer wenn von wirtschaftlichen Überlegungen gesprochen wird (z.B. „Wir können uns das wirtschaftlich nicht leisten.“), Politiker dann vorzuwerfen, sie stellen Geld über Menschenleben. Wirtschaft ist nicht primär der Finanzhandel. Wirtschaft ist auch und noch mehr – die Abwicklung der Geschäfte, wo Menschen kaufen und verkaufen das, was sie für (ein würdiges und gutes) Leben brauchen – wo Menschen durch ihre Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen usw.
Es ist nicht Aufgabe oder die Berufung der Kirche, die konkrete Lösung zu finden. Es ist aber wohl Aufgabe der Kirche und der Gläubigen, sich dafür stark zu machen, dass wir ALLE Menschen und den GANZEN Menschen im Blick haben: Österreich*innen, aber auch alle Menschen auf der Welt. Menschen, die gesundheitlich besonders gefährdet sind, aber auch Menschen, die sozial, wirtschaftlich, psychisch betroffen oder gefährdet sind, usw. Das ist auch keine leichte, aber eine sehr wichtige Aufgabe der Kirche. Denn das oberste Gebot des Christentums ist Gott- und Nächstenliebe.
Heinz Hödl
Posted at 17:16h, 26 AprilLieber Joseph,
ich habe dir schon via WhatsApp gesagt, dass du uns mit diesem Text eine herausfordernde Aufgabe gegeben hast. Ich werde versuchen einige meiner Gedanken und Überlegungen dazu vorzubringen.
Du schreibst: „Ob die beste Antwort auf das Virus im Erreichen von “Herdenimmunität” oder in (langer, vielleicht dauerhafter) “sozialen Distanz” ist eine medizinische, soziale und politische Frage.“ So werde ich mich einmal diesem Thema widmen: Zur Herdenimmunität hat gestern der deutsche Virologe Drosten folgendes gesagt: „Schließlich sei eine großflächige Immunität unter der Bevölkerung aufgrund der derzeitigen niedrigen Infektionszahlen nicht zu erwarten“. Tatsächlich gibt es in Schweden, die dieses Modell verfolgen 4 Mal mehr Todesfälle als in Österreich, das einen Lockdown machte. Es zeigt sich, dass die alten und risikorelevanten Gruppen nicht alleine zu schützen sind. Und im Übrigen, es gibt auch Todesfälle von jungen Menschen, die völlig gesund waren, bevor sie vom Corona Virus befallen wurden.
Laut Drosten liege die Weisheit in der Mitte. Schließlich wird es erst in einem Jahr einen Impfstoff geben, so Drosten. Tatsächlich glaube ich, dass es einen Impfstoff geben wird. Noch nie in der Geschichte haben so viele Wissenschaftler an einem Impfstoff geforscht. Daher ist diese Situation nicht zu vergleichen mit anderen Pandemien, die uns bisher heimgesucht haben.
Aber die alles entscheidende Frage ist wohl diese: Welches Leben ist das wertvollere, jenes der Werktätigen (systemrelevanten Menschen), der jetzt nicht gebrauchten (Arbeitslosen) oder jenes von Menschen die schon aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Selbst wenn es begründbar sein mag, ist es schwer eine abgebrühte Entscheidung zu treffen und zu sagen: „Es tut uns leid, aber wir müssen Ihre Großmutter sterben lassen.“
Dein Beispiel von New York zeigt die tragische Entwicklung in den USA. Es stimmt, dass die Maßnahmen, die die Ausbreitung des Virus verhindern sollen, gleichzeitig – ab einem gewissen Level – mehr andere Tode verursachen könnten als das Coronavirus verursacht. Für viele Menschen in den Entwicklungsländern im globalen Süden ist der Wegfall des Broterwerbs gerade für Arbeiter/innen und Kleinstunternehmer/innen v.a. im informellen Sektor gleichbedeutend mit Hunger und Krankheit. Du erwähnst zurecht den Artikel des UNO Generalsekretärs: „Hunderttausende Kinder könnten den Vereinten Nationen zufolge dieses Jahr weltweit infolge von Corona-Krise und globaler Rezession sterben“. Daher auch unser Unverständnis über Jozef Niewiadomskis Artikel und Aussage: Ein Merkmal der Barmherzigkeit sei nämlich, „dass sie rettet, koste es, was es wolle“. Dazu muss man aufzeigen, dass auf die ganze Welt bezogen, mehr Menschen in den armen Ländern aufgrund von Hunger, Unterernährung und Mangel an Gesundheitsinstitutionen und sauberen Wasser sterben werden, als im reichen Norden von der Corona-Pandemie. Was ist nun Barmherzigkeit versus Gerechtigkeit?
Niewiadomski weiter: „Um einen Impuls für eine „Gerechtigkeit für tatsächlich alle“ zu liefern, dürfe die Kirche nicht bloß Antworten der Politik wiederholen und sich auch nicht nur auf ethische Appelle beschränken, vielmehr müsse die Kirche alles daran setzen, „die Logik der Gerechtigkeit in die der Versöhnung und bedingungslosen Schuldvergebung – also der Barmherzigkeit – zu überführen“.
Ich muss gestehen, da komme ich nicht mehr mit. Was soll die Kirche wirklich tun? Zu den Aussagen von Niewiadomski fällt mir nur ein, was Klaus Berger (emeritierter Professor in Heidelberg) einmal gesagt hat: „Während der Exeget versucht, die verschiedenen Pflanzen zu beschreiben, kocht der Dogmatiker (Niewiadomski = meine Meinung) einen Tee daraus.“
Zusätzlich haben wir es noch immer mit viel zu vielen Konflikten kriegerischer Auseinandersetzung zu tun. Seit Jahren gibt es in Libyen, Ägypten, Zentralafrika, Nigeria, Kongo, Jemen, Israel – Palästina, Syrien, Irak, Afghanistan, Korea, Indonesien, Kolumbien, Venezuela, Guatemala, Nicaragua, El Salvador, Ukraine, Zypern und v.a.m. solche Konflikte mit verheerenden Folgen. Wie werden sie die Corona-Pandemie schaffen? Gar nicht, viele werden sterben, wobei wir nicht genau wissen werden woran: an Hunger, Malaria, Corona oder anderen Krankheiten. Denn eines wissen wir sicher, es gibt in diesen Ländern keine ausreichende Gesundheitsversorgung wie auch keinen Wohlfahrtsstaat, der die wirtschaftlichen Krisen abfedern (Kurzarbeit, Härtefonds etc.) wird können.
Zurück zu New York: Die USA hätten als reiches Land die Möglichkeit die Gesundheitsversorgung ALLER Menschen im Land zu gewährleisten, aber tatsächlich ist das Gesundheitssystem in den USA einerseits eines der höchststehenden der Welt und andererseits können sich Millionen dieses System – seit Jahren – nicht leisten. Das ist nun keine Frage der Herdenimmunität oder anderer Maßnahmen, sondern eine seit Jahren falsche Entwicklung.
Deinem Absatz: „Es ist nicht Aufgabe oder die Berufung der Kirche, die konkrete Lösung zu finden. Es ist aber wohl Aufgabe der Kirche und der Gläubigen, sich dafür stark zu machen, dass wir ALLE Menschen und den GANZEN Menschen im Blick haben: Österreich*innen, aber auch alle Menschen auf der Welt.“ ist zuzustimmen und er ist von entscheidender Bedeutung!! Daher müssen wir mitdiskutieren, uns engagieren und Partei ergreifen.
Heinz Hödl
Posted at 15:37h, 01 MaiDramatisch erhöhte Todeszahlen in New York City
Die New York Times hat beispielsweise berechnet, dass in Spanien über 26.000 Menschen mehr gestorben sind, als sonst zu erwarten wäre. Nur etwa 17.000 wurden allerdings als Corona-Todesopfer erfasst.
In New York City ist die Anzahl der Todesfälle um das Sechsfache erhöht. Das heißt aber nicht, dass alle von ihnen an Covid-19-Infektionen starben. Todesfälle durch überlastete Krankenhäuser oder andere Folgen des Ausnahmezustands sind ebenfalls in den Zahlen enthalten.
Gleichzeitig ist es möglich, dass die bestehenden Kontaktbeschränkungen andere Todesfälle, die nicht mit Covid-19 zusammenhängen, verhindert haben.